Sibirische Erinnerungen
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Czernowitz vor unserer sibirischen Odyssee Ich beginne meine Geschichte erst im Jahre 1941, nachdem man schon sehr viel über die schöne und glückliche Jugend, geschrieben hat, die wir in Czérnowitz erlebten. Ich bin ein „Czernowitzer Kind“, bin bis zu meinem achten Lebensjahr – als meine Schwester geboren wurde – als einziges Kind einer bürgerlichen Familie aufgewachsen, ohne jedoch besonders verwöhnt worden zu sein (S. 14). Ich genoß eine liebevolle, wenn auch etwas strenge Erziehung, durch die man mir Fleiß und Verantwortung beibrachte, die mir später im Leben viel geholfen haben. Ich wuchs in den ersten Jahren heran, als in Czernowitz der Übergang von der österreichischen k u. k. Monarchie zur rumänischen Herrschaft vollzogen wurde: Ich ging in eine deutschsprachige Volksschule, wir sprachen zu Hause nur deutsch, lasen deutsche Bücher, gingen ins deutsche Theater, etc. Erst als ich ins Lyzeum aufgenommen wurde, begann ich, Rumänisch zu lernen, das ja die Staatssprache war. Zu Hause, in der Familie und unter Freunden sprechen wir bis heute nur deutsch - unsere Muttersprache (S. 60/61). In den acht Jahren im Mädchenlyzeum begann bereits der Antisemitismus spürbar zu werden, und nur die Besten wurden zur Matura zugelassen, darunter auch ich, da ich als „Vorzugsschülerin“ galt. Im Jahre 1938 maturierte ich (S. 63) und gedachte, Pharmazie zu studieren; da es an der Czernowitzer Universität eine solche Fakultät nicht gab, wollte ich mein Studium in Prag beginnen. Nachdem man aber im Jahre 1938 in Europa bereits Kommendes voraussehen konnte, wollten meine Eltern mich nicht von zu Hause wegfahren zu lassen. Mein Vater war damals Verwalter der „Götz-Säge“ in Czernowitz, und so fand er eine Arbeit für mich beim Verzollen und Abfertigen von Brettern für den Export ins Ausland. Als sich im Jahre 1939 die Lage in Europa weiter verschlimmerte, beschloß man, die Säge nach Rumänien zu überführen, und mein Vater, der damit beauftragt war, wurde nach Constanza (Rumänien) versetzt. Im Jahre 1940 kam mein Vater jedoch nach Czernowitz zurück, um alles zu liquidieren und die Familie nach Constanza zu holen. Ich aber hatte inzwischen meinen zukünftigen Mann kennengelernt (S. 63), und als er erfuhr, daß ich in Kürze umsiedeln würde, bat er seine Eltern zu meinen Eltern, um diese zu überzeugen, uns heiraten zu lassen. Der Vater meines Mannes, Dr. Salomon Kassner, war ein sehr angesehener und bekannter Anwalt, Publizist, Schriftsteller und Zionist, und er überredete meine Eltern, uns nicht im Wege zu stehen und uns noch im Mai 1940 heiraten zu lassen, damit ich nicht nach Constanza übersiedeln mußte, sondern in Czernowitz bleiben konnte. Am 26. Mai 1940 haben wir geheiratet (S. 65), am 11. Juni 1940 fuhren meine Eltern mit meiner Schwester nach Constanza, am 29. Juni 1940 wurde Czernowitz von der Roten Armee besetzt, und ich wurde 27 Jahre von meinen Eltern getrennt. Ein Jahr später, am 13. Juni 1941, begann unsere Deportation und Odyssee, über die in meinen Sibirischen Erinnerungen berichtet wird.