Alte Mythen - neue Mythen
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Jeder Staat nutzt das Medium Schulbuch für die Sozialisation der Kinder und die Vermittlung eigener Werte. Unter allen Schulbüchern bieten sich die Lehrbücher für den Geschichtsunterricht als besonders geeignetes Medium für die Vermittlung von Ideen und Werten der Herrschaftselite an. Daher stehen sie im Mittelpunkt dieser Studie. Iran verfügt über eine jahrhundertealte Tradition der annalistischen (universalen wie regionalen) Geschichtsschreibung, zu der aber nur eine höfische und gebildete Elite Zugang hatte. Das Geschichtsbewusstsein der überwiegenden Mehrheit der Iraner war bis zur Wende zum 20. Jahrhundert von Mythen geprägt. Die Übersetzung von Werken europäischer Historiker und die Herausbildung einer neuen einheimischen Historiographie gegen Ende des 19. Jahrhunderts verdrängten allmählich diese alten Mythen aus den iranischen Geschichtswerken. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über das antike Persien flossen in die Werke der Schulbuchautoren ein. Iranische Intellektuelle hatten durch ihre Kontakte mit Europäern Bekanntschaft mit Konzepten wie „Nation“ und „Nationalstaat“ gemacht. Historiographie und historische Aufklärung wurden ein effektives Mittel für die Schaffung einer iranischen Identität. Der Vermittlung von Geschichte kam am Ende der Qadscharen-Zeit aber auch eine weitere bedeutende politische Funktion zu, denn der Kontakt zu Europäern hatte die iranische Bildungselite mit neuen politischen Ideen wie Partizipation, Freiheit und Unabhängigkeit vertraut gemacht. Es überrascht deshalb nicht, dass diese Vertreter der iranischen Elite Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Historiographie zur Mobilisierung der Menschen im Kampf für die Etablierung einer konstitutionellen Monarchie und gegen den wachsenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss der rivalisierenden Kolonialmächte England und Russland instrumentalisierten. Mit dem Sturz der Qadscharen und der Machtübernahme der Pahlavi-Dynastie (1925-1979) wurde dieser Trend mit einigen Modifikationen fortgesetzt. Die Zentralisierung, die unter Reza Schah begann, gab dem Staat die Möglichkeit, das Bildungssystem und somit auch die schulische Historiographie stärker unter seine Kontrolle zu bringen. So durften Partizipation und Demokratie nicht mehr zu den Zielen des Bildungssystems zählen. Vielmehr sollte der Fokus auf der „prachtvollen“ antiken Vergangenheit liegen, um die ethnischen Differenzen zu überwinden und die Bildung einer iranischen Nation mit gemeinsamen historischen Wurzeln zu stärken. Der Sturz von Muhammad Reza Schah und die Gründung der Islamischen Republik durch Ayatollah Khomeini (1979) bedeutete zugleich eine radikale Wende im iranischen Bildungssystem: Säkularismus sollte nun durch Islamismus, die iranische Identität, die auf dem Stolz auf die antike Zivilisation beruhte, durch eine islamisch-schiitische Identität ersetzt werden. Als 1997 mit Mohammad Khatami ein Staatspräsident an die Macht kam, der einen moderateren Ton anschlug, wurde das Bild der antiken Vergangenheit revidiert; es galt nun nicht mehr als finsteres Zeitalter, sondern als anerkannter fester Bestandteil der iranischen Identität.