Imagination und Wahrheit
Authors
More about the book
Mit den offenbaren Geheimnissen seiner faszinierendsten Gestalten Versteck zu spielen, gehört zu Goethes Genialität. Der vom Autor als sein Ebenbild gekennzeichnete aktive Titelheld, der Shakespeares Vornamen trägt und Meisterschaft erstrebt, verhüllt und offenbart sich selbst in seinen größten Geheimnissen. So läßt der Erzähler Wilhelms italienische Sehnsuchts- und tragische Sängergestalten, Mignon und den Harfner, mit ihren ergreifenden Liedern ganz aus dem liebeskranken Herzen und der schöpferisch produktiven Einbildungskraft Wilhelms, seiner zentralen Dichtergestalt, entspringen. Wie der Künstler von einer zerstörerisch regressiven oder schweifenden Phantasie zu einer in der Wahrheit des Realen gegründeten geregelten Imagination vorstößt, seine analytischen und ästhetischen Fähigkeiten entwickelt, zeigt sich an Wilhelms Bildungsweg, seinen Überlegungen, Theaterproduktionen und Hilfeleistungen. Als er schließlich seinen Sohn Felix und in der Geistesaristokratie des Turms die Ergänzung und Integration seiner Fähigkeiten auf höchstem Plateau findet, erleben die Sängerfiguren durch seine Heilung ihre letzte Verwandlung. Mignons feierliche Kunstwerdung, Wilhelms Wiederfinden seines Erbes der italienischen Meistergemälde und die Verbindung mit Natalie als der erkannten Gestalt aller Gestalten bekräftigen das erreichte, als höchstes Glück empfundene Ziel. Mithilfe einer ganzheitlich ausgerichteten und textnahen Analyse legt die Monographie die tiefsinnige Symbolik und verheimlichte Symmetrie der Makro- und Mikrostrukturen des Romans offen. Sie stützt sich zur Dokumentation auf Goethes Epistemologie, Ästhetik, Lebenszeugnisse und Naturwissenschaft. Der allein als Künstlerroman folgerichtige Bildungsroman der Lehrjahre konstituiert in Goethes dichterischem Selbstverständnis die Mittelachse zwischen den Künstlerdramen Torquato Tasso und dem zweiten Faust (Akt 1-3).