Das Kephalophoren-Wunder in churrätischen Viten
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Als Kephalophoren – Kopfträger – werden Märtyrer bezeichnet, die nach der Enthauptung ihren Kopf aufheben und eine gewisse Strecke zurücklegen. Das Motiv ist in der Weise ausgestaltet, dass das abgeschlagene Haupt Gott lobt, der Körper sich aufrichtet und sein Haupt zum gewünschten Bestattungsort trägt. Das Kephalophoren-Wunder findet sich zwischen dem 8. und 17. Jahrhundert in der gesamten westlichen Christenheit, vornehmlich im Gebiet links des Rheins und in Oberitalien. Das Motiv wurde in der Zeit vom 9. bis 12. Jahrhundert durch irofränkische Mönche und Benediktinerklöster weit verbreitet. Tatsächlich wissen wir über die Persönlichkeit der rätischen Kephalophoren –Placidus von Disentis, Gaudentius von Casaccia, Victor von Tomils und Eusebius vom Viktorsberg – wenig. Der Aussagewert der Wunderepisode liegt weniger in der Martyriumsszene an sich als in der Darstellung des Wirkungsfeldes, in dem sich der Märtyrer befindet. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf kirchenpolitische Ziele gewinnen. Mit dem Kephalophoren-Motiv werden zwei Kultplätze, der Martyriums- und der Bestattungsort, zueinander in Beziehung gesetzt, die oft zu Anfangs- und Endpunkt einer Prozession werden oder eine Reliquientranslation anzeigen. Die Überwindung der Distanz vom Todes- zum Bestattungsort – eine das Naturgesetz brechende Handlung – verweist auf die Heiligkeit des Protagonisten und auf die Macht Gottes. Das Wunder steht zum einen als Vorbild für die Glaubenstreue des Märtyrers bis in den Tod, zum andern im Dienste der Kultstätte, die durch den Willen des Heiligen eine Vorrangstellung als Wallfahrtsort erhält.