Nachts: Göthe gelesen
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Wenn Kunsthistoriker nachts nicht schlafen können, nehmen sie Klassiker zur Hand. Grundlage dieser interdisziplinären Studie ist der schriftliche Nachlass des Schweizer Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin, der zu den bedeutendsten Wissenschaftlern seines Faches zählt. Anhand umfangreicher Archivfunde wird dem Leser anschaulich dessen komplexe Beschäftigung mit Johann Wolfgang von Goethe vor Augen geführt. Man gelangt buchstäblich an den Schreibtisch Wölfflins und sieht, wie er zu seinen Begriffen fand und aus welchen Quellen er sie entwickelte. Dabei nahm der Kunsthistoriker nicht den Weg über die kunsttheoretischen Schriften Goethes, sondern über die naturwissenschaftlichen. Wölfflins Begriffssystem von Form und Formentwicklung ist nachweislich in einen morphologischen Kontext im Goethe’schen Sinne eingebunden. In überraschender Konsequenz übertrug Wölfflin diese Vorstellung auf das eigene Leben: An Goethe wollte er sich buchstäblich bilden. Die hier vorgenommene Lesart lässt Wölfflins Goethe-Rezeption als ein intellektuell-geistreiches Unterfangen erscheinen, das im Spannungsfeld von vorformulierten Denkmodellen und eigenständigem Denken ein produktives »In-Spuren-Gehen« in Gang setzt.