Matriarchale Utopien, freie Liebe und Eugenik - die Mutterbewegung im Deutschen Kaiserreich und der Bund für Mutterschutz bis 1940
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Noch vor etwa 100 Jahren – also zu Lebzeiten unserer Urgroßeltern – war es nicht ungewöhnlich, dass ledige Mütter mit ihren Neugeborenen aus ländlichen Gemeinden ausgewiesen wurden. In Großstädten kamen die von ihren Familien und Dienstherren Verstoßenen etwa in Parkanlagen an Bäumen nieder. Suizide und (verschleierte) Kindsmorde gehörten zum Alltag im Deutschen Kaiserreich. Fanden die Mütter Arbeit, mussten sie ihre Kinder in gefährliche Pflege geben. Um 1900 lag die Sterblichkeit dieser Kinder im ersten Lebensjahr bei fast 30 Prozent. Und diese hohe Sterblichkeit war von den Wortführern der Gesellschaft sogar gewünscht! Denn das sichtbare Elend der „gefallenen Frauen“ diente als abschreckendes Beispiel und förderte nach Ansicht der populären Eugeniker auch die Auslese der Schwachen und der „moralisch Verkommenen“. Verheiratete Mütter und ihre Kinder hingegen wurden zwar mehr oder weniger versorgt, doch war auch ihr Rechtsstatus im Streitfall dem von Leibeigenen ähnlich. So hatten sie weder Bestimmungsrechte über ihren Körper und ihre Fruchtbarkeit noch über ihre Kinder, sondern vor allem Pflichten und „Mitwirkungsrechte bei der Pflege“. Auch den verfemten ledigen Müttern wurden ihre Kinder oft durch Behörden entrissen. Frauen in Europa und den USA erhoben sich, um das zu ändern. Mutterbewegungen entstanden, deren Forderungen im Vergleich zu denen heutiger Vereine, die die Lage der (ledigen) Mütter verbessern wollen, wesentlich hinausgingen. So gehörte zur deutschen Mutterbewegung in ihren Anfängen auch der Plan, matriarchale Parallelgesellschaften (Mutterkolonien) in den dünn besiedelten Ostgebieten zu errichten, wo zu einem „arteigenen Frauenleben“ und zu spiritueller Verbindung mit der Erde zurückgefunden werden sollte – ein Plan, der von vielen namhaften Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kunst finanziell und ideell unterstützt wurde. In einem biografischen Ansatz werden der Kampf um und die Sehnsucht nach freier Mutterschaft, wie sie die führenden Rivalinnen im Bund für Mutterschutz (1904–1940) – die ehemaligen Lehrerinnen Ruth Bré und Helene Stöcker – verwirklichen wollten, ebenso quellennah wie spannend erzählt. Die Geschichte der Mutterbewegung, die ihre Ziele auch mithilfe der Kunst zu transportieren suchte, und des Bundes für Mutterschutz, der von immer neuen erbitterten Machtkämpfen erschüttert wurde, sowie die Geschichte seiner vor Patriarchatshass und Missionseifer glühenden Vorkämpferinnen zeigen, dass die erste deutsche Frauenbewegung mehr radikale Elemente in sich trug, als von der Forschung bisher eingeräumt wurde.