Einzelkindverhalten in Literatur und Realität

Kinder kommen heute zunehmend mit veränderten und zu einem erheblichen Teil defizitären Sozialisationserfahrungen in die Schule, sei es, daß sie geschwisterlos aufwachsen, oder sei es, daß sie nicht einmal eine 'Kleinfamilienkindheit' erfahren haben bzw. erfahren. Die Schule ist hierauf weder vorbereitet, noch scheint sie in der Lage, wirksame Zielvorstellungen und Lösungskonzepte zu artikulieren. Neben der Deskription, Aufarbeitung und Diskussion möglicher Einflußgrößen für das Einzelkindverhalten anhand historischer und aktueller Quellen soll ein Transfer auf die schulpädagogische Organisations- und Handlungsebene am Beispiel des Gymnasiums erfolgen. Die hier vorgestellte Untersuchung verfährt hermeneutisch-interpretativ. Als Erkenntnisquellen werden neben Definitionen und Erörterungen aus der historischen und gegenwärtigen Fachliteratur Sekundäranalysen vor allem soziologischer Forschungsbeiträge und die persönliche Berufserfahrung des Autors als Gymnasialpädagoge herangezogen. Hierzu gehört auch die Erkundung von Auffassungen und Einstellungen von Schülern und deren Eltern in diesem persönlichen Erfahrungsfeld. Diese Erkundung ist nicht von den Ansprüchen empirischer Sozialforschung bestimmt. Verschiedenen Arbeiten konnten methodische und inhaltliche Schwächen nachgewiesen werden, die möglicherweise mit zur Verbreitung eines negativen Verständnisses von Einzelkindern beigetragen haben. Auch der Begriff der 1-Elternteil-Familie ist mit Vorurteilen behaftet. Da ein Einzelkind in einer solchen Familie mit anderen Problemen (als z. B. ein Kind in einer 2-Elternteil-Familie bzw. ein Kind mit Geschwistern) aufwächst, sollte man von einer Differenzhypothese (und nicht von einer Defizithypothese) sprechen. Diese 'Andersartigkeit' wird jedoch vielfach mißverstanden und in der Schule negativ empfunden und entsprechend sanktioniert. Es können Realisierungsfelder für Diagnose und Therapie defizitärer Schülerverhaltensweisen aufgezeigt werden, bei deren Verwirklichung die Schule die Chance hätte, den Kindern Leben zu vermitteln, damit sie auf dieser Basis ihre eigenen Lern- und Lebensprobleme bewältigen können.