Wissensorganisation in medizinischen Sammelhandschriften
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Im Überlieferungsbestand mittelalterlicher medizinischer Handschriften herrschen nicht die schön ausgestatteten vor, zum wenigsten die berühmt gewordenen mit herrlichem Bildschmuck, sondern vielmehr ganz einfache Sammelkodizes mit bunt gemischtem, sach- oder fachbezogenem Inhalt. Oft finden sich darin wirkungsstarke Texte wie das Arzneibuch Ortolfs von Baierland, der „Ältere deutsche Macer“ oder das „Buch der Natur“ Konrads von Mergenberg, weitaus häufiger jedoch sehen sie auf den ersten Blick wie ungegliederte, heterogene Textkonglomerate aus, und die einzelnen Bausteine scheinen in ihrer Unübersichtlichkeit und mit ihrem typischen kompilativem Charakter ebenfalls wenig attraktiv. In der Tat erweist es sich als äußerst schwierig, mit dem traditionellen Instrumentarium der Literaturwissenschaft diese Kollektaneen in den Griff zu bekommen: Was dem entgegensteht, ist der fehlende Werkcharakter der einzelnen Bestandteile, die nicht nur keinen Verfasser haben und meist ohne greifbare Vorlagen ad hoc niedergeschrieben wurden, sondern noch dazu ohne bestimmbaren Anfang und klares Ende ineinander verschmelzen. Die bisherige Fachprosaforschung hat diesen historischen Befund zugunsten einer Beschäftigung mit mehr oder weniger gut definierbaren Elementen ausgeblendet und eine eigene Terminologie entwickelt, die angesichts der Textfülle nun an Grenzen stößt. Diese werden zunächst abgesteckt, bevor anhand von Beispielen aus den drei klassischen Themenbereichen der Heilkunde, Diagnostik, Prognostik und Therapie, die Textfunktion als neue gattungsstiftende Kategorie neben Form und Inhalt eingeführt wird. Diese Sichtweise ermöglicht einen streng synchronen Zugriff auf das Material und erlaubt es, die zeitgenössische Sichtweise nachzuvollziehen. Dabei werden zwei sich wiederholende und ergänzende Gliederungsstrukturen sichtbar (Jahreslauf, Diätetik), die einerseits die Planmäßigkeit in der Anlage anscheinend beliebig kompilierter Sammelhandschriften demonstrieren, andererseits aber auch den Gebrauchswert und die Anwendung der tradierten Inhalte relativieren, so dass sich letztlich überraschenderweise ein Großteil der medizinischen Texte des Spätmittelalters als Bildungs- und nicht als Handlungswissen erweist.