Reisen und Bürgertum
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Reisen nach China waren im 19. Jahrhundert nicht mehr unüblich, und es gibt eine überraschend große Anzahl an Reiseberichten. Diese Berichte erweisen sich als relativ homogen und spiegeln das kulturelle Überlegenheitsgefühl der Europäer und ihr Sendungsbewußtsein wider, das sie veranlaßte, sich die ganze Weit untertan zu machen, ihre Technik und ihr Wirtschaften, aber auch ihre Werte und Normen der ganzen Welt aufzuzwingen. China wurde zwangsweise von den imperialistischen Staaten aus der selbstgewählten Isolation in die Weltpolitik und in den Welthandel integriert. Die traditionelle Ordnung Chinas genügte diesen Anforderungen nicht, und in einer ganzen Reihe von Schritten kam es zur Anpassung, mit der die Zunahme des westlichen Einflusses auf alle Bereiche Chinas einherging. Genannt seien hier nur nach den diversen Kriegen, aufgezwungenen Verträgen und gewaltsamen Landnahmen des letzten Jahrhunderts die wichtigsten Ereignisse dieses Jahrhunderts: die politischen Revolutionen von 1911 und die vom 4. Mai 1919, aber auch der lange Bürgerkrieg und die Machtübernahme der Kommunisten im Jahre 1949. Die Integration in die Weltpolitik ging so weit, daß in den 30er- und 40er Jahren dieses Jahrhunderts ein Teil dieser Weltpolitik auf chinesischem Boden und auf dem Rücken der chinesischen Bevölkerung ausgetragen wurde. Und es kam nicht zuletzt zu beträchtlichen Anpassungsschwierigkeiten, deren letzte wir 1989 auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking über das Fernsehen beobachten konnten. In den Reiseberichten ist eindrucksvoll der Glaube an die Modernisierung nach europäischem Maßstab ablesbar, der Glaube auch an die Überlegenheit westlicher Technik und Kultur. Es wird komplementär dazu die Verachtung - anders kann es einfach nicht bezeichnet werden - gegenüber dem Fremden, dem Unbekannten, dem Andersartigen deutlich, die geprägt ist von (Vor-)Urteilen aus der Heimat. Die bürgerliche Fortschrittsideologie kümmerte sich nicht um das, was rechts und links ihres Weges lag, sondern ging konsequent ihren Weg. Der „Zeitgeist“ des zu Ende gehenden Kolonialzeitalters ist in den Reiseberichten förmlich mit beiden Händen greifbar. China war und ist ein fremde Welt, deren Faszination auch heute noch nicht nachgelassen hat. In der Verarbeitung der uns oft schwer verständlichen Fremdheit spiegeln sich die kulturellen Maßstäbe wider, die jeder von uns unbewußt mit sich herumträgt. Die Fremde als Spiegel der Heimat.