Die Schweiz und das Russische Reich 1848 - 1919
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Die europäische Geschichte kennt wohl kaum zwei unterschiedlichere Staatswesen als den schweizerischen Bundesstaat von 1848 und das Zarenreich. Ganz abgesehen von der nicht vergleichbaren Grösse und Macht der beiden Länder standen sich hier konträre politische Systeme und Kulturen gegenüber: Während die zarische Autokratie ihre Untertanen mit eiserner Hand kontrollierte und nach aussen die Rolle einer europäischen Führungsmacht spielte, kultivierte die liberale Schweiz eine kleinstaatliche Selbstgenügsamkeit, die sich für Verbesserungen im Innern interessierte und auf eine aktive Aussenpolitik weitgehend verzichten zu können glaubte. Die Zarenherrschaft erschien den Schweizern als despotisch und rückständig; umgekehrt sah St. Petersburg in der liberalen Entwicklung der Eidgenossenschaft und besonders in ihrer toleranten Asylpolitik einen gefährlichen Ausdruck politischer Dekadenz. Dass die beiden Staaten trotz dieser Gegensätze rege Beziehungen unterhielten, liegt einerseits in den strategischen Interessen der zarischen Europapolitik begründet; andererseits war durch die massenhafte Auswanderung schweizerischer Arbeitskräfte ins Zarenreich und durch die Anwesenheit zahlreicher, teilweise gewaltbereiter russischer Dissidenten in der Schweiz eine spannungsvolle Wechselseitigkeit gegeben. Die vorliegende Studie skizziert auf der Grundlage umfangreicher schweizerischer und russischer Archivmaterialien den offiziellen Kontakt zwischen Bern und St. Petersburg (bzw. Petrograd) in den Jahren 1848-1919, also von der Gründung des schweizerischen Bundesstaates bis zum Abbruch der Beziehungen nach der Oktoberrevolution. Der Autor beleuchtet in vier Kapiteln die institutionellen Voraussetzungen des bilateralen Austauschs, die Krisen der politischen Beziehungen in den Umbruchsjahren um 1848 und 1917 sowie die Entfaltung eines diplomatischen Courant normal in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei wird die Sphäre des Politischen in ihrer Wechselwirkung mit sozialen und kulturellen Gegebenheiten betrachtet; die Lebensumstände der schweizerischen Konsuln im Zarenreich interessieren ebenso wie die spezifischen Loyalitäten russischer Staatsdiener oder der Zusammenprall gegensätzlicher Wahrnehmungsmuster. Durch ihre Verortung im internationalen Kontext wird die schweizerisch-russische Verflechtung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts überdies als Schauplatz einer europäischen Gesamtentwicklung verständlich gemacht.