Juristen und die Bauernfrage
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Im Jahr 1906 setzte Ministerpräsident Pjotr Stolypin eine Reform des bäuerlichen Landbesitzes im Zarenreich durch. Dem gingen jahrzehntelange Debatten um die sogenannte Bauernfrage voran, und auch Stolypins Reformverordnungen waren höchst umstritten. Es ging hierbei um grundlegende Entscheidungen für die Mehrheit der Bevölkerung: Wie sollten die Bauern das Land besitzen, als Kollektiv in der Dorfgemeinde oder als Privateigentümer? War den Bauern genug Land in der Bauernbefreiung 1861 zugewiesen worden? Wie viel persönliche Freiheit sollte dem einzelnen Dorfbewohner gewährt werden, wie viel materielle Sicherheit der Staat ihm garantieren? Und wie wirkte sich die Reform 1906 auf die tatsächlichen Verhältnisse in den Dörfern aus? Diese Fragen beschäftigten auch die russischen Juristen über Jahrzehnte. In diesem Buch wird die juristische Diskussion um das bäuerliche Grundeigentum zwischen 1880 und 1914 nachgezeichnet. Hierbei lassen sich in der zivilrechtlichen Fachliteratur zwei Richtungen entdecken: eine „westliche“ Strömung, die sich an westeuropäischer Rechtsdogmatik orientierte, und eine „slavophile“ Schule, die einen originär russischen Weg auch in der Zivilrechtsentwicklung gehen wollte. Doch nicht nur zivilrechtliche Probleme verbergen sich hinter der Bauernfrage. Auch die bäuerliche Selbstverwaltung wurde diskutiert, sobald die landbesitzende Dorfgemeinde in Frage stand. In den Debatten um die Bauernfrage spiegeln sich Denk- und Arbeitsweise sowie rechtspolitische Vorstellungen namhafter russischer Juristen vor der Revolution 1917. Auf sie wird in der Russischen Föderation heute vielfach Bezug genommen, um eine eigenständig russische Rechtstradition jenseits der sowjetsozialistischen Entwicklung zu begründen.