Gnomica Democritea
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Die Textüberlieferung des Ethikers Demokrit von Abdera (5./4. Jahrhundert v. Chr.) stellt bis heute ein Mysterium dar: Während sich die Spuren der ethischen Originalschriften bereits in der frühen Kaiserzeit verlieren, taucht in der Spätantike scheinbar abrupt eine indirekte Tradition auf. Die im Rahmen spätantiker Sammlungen (Ps.-Demokrates, Stobaios) überlieferten rund 300 Demokrit zugeschriebenen Textstücke haben überwiegend die Form des sentenziösen Einzelsatzes (griech. Gnome) und bilden den Kern des seit Diels maßgeblichen Kanons der Demokritfragmente (Fragmente der Vorsokratiker, Kap. 68). Der Autor der Untersuchung Gnomica Democritea unternimmt es zunächst, anhand des Nachweises inhaltlicher und sprachlicher Bezüge zwischen den wenigen literarischen Fragmenten aus Originalschriften und der heteronomen gnomologischen Tradition, die generelle, von Diels u. v. a. postulierte Echtheit der gnomica neu zu fundieren, und präzisiert dabei den Begriff „Echtheit“: Die gnomischen Sätze gehen zwar mittelbar auf eine echte Texttradition zurück, wurden aber im Verlauf ihrer langen Rezeptionsgeschichte mannigfaltigen Eingriffen in die Textgestalt unterworfen. Hierbei wurde der Sinn häufig banalisiert oder populärphilosophisch umgedeutet. In Einzelfällen gelingt auf dem Trümmerfeld der gnomologischen Tradition der Nachvollzug solcher Rezeptionsphänomene, zuweilen sogar die Wiedergewinnung originaler Kontexte, Lesarten und neuer Fragmente. Die Einsichten in die Prozesse und Motive der gnomologischen Überformung ermöglichen nicht nur punktuelle Modifikationen des Dielsschen Kanons, sondern verhelfen darüberhinaus zu einer differenzierteren Bewertung der als „Fragmente“ figurierenden Gnomentradition. Da nicht nur die spätantiken Quellen, sondern auch die großen byzantinischen Florilegien nachweislich auf älteren, zum Teil verlorenen Vorlagen beruhen, mithin in einem bis in die Antike zurückreichenden Überlieferungskontinuum stehen, wertet der Autor im Hauptteil seiner Untersuchung die bislang ignorierte jüngere Tradition (ab dem 6. Jahrhundert) für Demokrit aus, wobei ein überlieferungsgeschichtlich eminent wichtiges Florilegium namens Corpus Parisinum (9. Jahrhundert) im Zentrum steht. Auf der Basis einer akribischen Analyse der Überlieferung, Genese und kompilativen Struktur dieser Sammlung, ihrer Quellen und Deszendenten, werden die verschlungenen Überlieferungswege der Democritea von der Spätantike bis ins Hochmittelalter sowie die sukzessiven Eingriffe und Fehler in bisher nicht gekannter Präzision ermittelt. Weil ein rein autorenspezifischer Zugang nicht zur Erfassung der komplexen Quellen- und Verwandtschaftsverhältnisse führen kann, mussten die relevanten Sammlungen zur Gänze als kompositorische Einheiten untersucht werden. Dank dieses erweiterten Forschungsansatzes, der traditionell philologische mit innovativen struktur- und kompositionsanalytischen Methoden verknüpft, ließen sich, über das „Leitfossil“ Demokrit hinausweisend, gänzlich neue und fundamentale Erkenntnisse über das Corpus Parisinum und sein Traditionsumfeld, sowie über die zugrundeliegenden Sammelmethoden und -konzepte gewinnen.