Gerdas Tagebücher
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Ein Denkmal von und für Mutter und Tochter Maria Goudsblom-Oestreicher, meine Frau, hat sich seit 1994 und bis wenige Monate vor ihrem Tod im Frühjahr 2009 damit beschäftigt, die Tagebücher ihrer Eltern – Dr. med. Felix Hermann Oestreicher und Gerda Margarethe Oestreicher-Laqueur – für eine Veröffentlichung zu bearbeiten. Es handelt sich dabei um Tagebücher ganz verschiedener Art. Nachdem Felix Oestreicher, seine Frau, zwei seiner kleinen Tochter und seine Mutter im November 1943 als Juden verhaftet worden waren, hatte er in den KZs Westerbork und Bergen-Belsen in einem ärztlichen Taschenkalender täglich kurze, sachliche Notizen über das Leben im Lager gemacht: über Essen, Krankheiten, Todesfälle. Alles wurde mit Bleistift im Telegrammstil notiert, offensichtlich in der Absicht, dem Autor später als Gedächtnisstütze zu dienen. Felix Oestreicher war jedoch leider nicht in der Lage, seine Einträge selbst auszuarbeiten. Nur wenige Wochen nachdem sie in Tröbitz im südlichen Brandenburg von der Roten Armee befreit worden waren, sind Gerda und Felix Oestreicher kurz nacheinander an Flecktyphus gestorben. Erst die Bemühungen Marias, unterstützt von ihrer deutschsprachigen Freundin Anneliese Nassuth, haben es ermöglicht, dass das Tagebuch mit vielen Dokumenten und Bildern ergänzt im März 2000 beim Hartung-Gorre Verlag (Konstanz) erscheinen konnte. Gerdas Tagebücher sind ganz anderer Art und haben eine ganz andere Geschichte. Sie umfassen eine viel längere Periode, nämlich von 1918 bis 1929 und von 1938 bis 1939. Sie beginnen in konventioneller Weise: Die zwölfjährige Gerda hat ein unliniertes Heft in schönem Ledereinband mit Verschluss bekommen, wo sie ihre häuslichen und schulischen Erlebnisse niederschreiben kann. Aber schon im ersten Satz zeigt sie eine über Haus und Schule weit hinausreichende Aufmerksamkeit auch für historische Ereignisse. Es ist 16. Oktober 1918, und der Erste Weltkrieg geht zu Ende: „Viertes Kriegsjahr! Noch keine Friedensaussichten!!!“ So beginnt Gerdas Tagebuch. Weniger als einen Monat später kapitulieren die Achsenmächte. Der Schock der Niederlage bringt Unruhe und Unsicherheit in ganz Deutschland, auch in Brieg, der kleinen Industriestadt südöstlich von Breslau in Schlesien, dem Wohnort von Gerdas Familie Laqueur. Das spontane Reagieren auf Ereignisse in der großen Außenwelt ist eine der Qualitäten, die dieses Tagebuch zu etwas Besonderem machen.