Topographie der Stille
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West-Berlin war ein unwirklicher Ort. Jenseits plakativer Bezeichnungen wie „Frontstadt“ oder „Selbstständige Politische Einheit“ war es ein politisch höchst fragiles Gebilde mit überalterter Bevölkerung und schrumpfender Industrie, von Subventionen nur mühsam am Leben erhalten. In den siebziger Jahren, zwischen Viermächteabkommen und S-Bahn-Streik, befand sich die Teilstadt in einem besonderen Zwischenzustand der Stille: durch die neue Ostpolitik hatte sich die politische Situation teilweise entspannt, doch viele wirtschaftliche und soziale Probleme bestanden fort, die außerhalb West-Berlins immer weniger wahrgenommen wurden. Städtebaulich setzte der Berliner Senat noch lange auf eine hochsubventionierte Kahlschlagsanierung der gründerzeitlichen Mietskasernen. Als Reaktion darauf b egann 1971 mit der Besetzung des ehemaligen Krankenhauses Bethanien die lange Geschichte der Hausbesetzungen in West-Berlin. - Von 1971 bis 1981 stellte der Berliner Graphiker Michael Otto in zahlreichen Radierungen ein West-Berlin jenseits touristischer Werbuing, Sozialromantik und demonstrativer Anklage vor. Seine Motive fand er häufig in den Stadtteilen der Hausbesetzer und Stadtsanierer. Die Mauer hatte hier ebenso ihren Platz wie der Beton der Stadtautobahn, es finden sich Abrisshäuser und Hinterhöfe, aber auch Teltowkanal und Havel. Die Straßen sind meist wie ausgestorben, nur wenige Passanten sind zu finden, Autos fast überhaupt nicht. Bauwagen sind ein häufiges Motiv, doch auf den Baustellen scheint die Zeit stillzustehen. Und tatsächlich war die Berliner Bauwirtschaft in dieser Zeit mehr von Bauskandalen als von Neubauten geprägt. Wenige Künstler haben diese bleierne Stimmung in West-Berlin so präzise dargestellt wie Michael Otto. Mit „Topographie der Stille“ liegen erstmals sämtliche Berlin-Motive im graphischen Werk des 1938 geborenen Berliner Malers und Graphikers vor.