Pferde unter sich

AuszugVon 1969 bis 1979 befassten sich Studenten des Zoologischen Institutes der Universität Bern im Rahmen von Dissertationen und Diplomarbeiten mit Fragen zum Sozialverhalten von Camargue-Pferden, die sich selbst überlassen während Jahren auf Ödland in der Camargue lebten. Über hundert Verhaltensweisen wurden festgestellt, auf Filmen und Fotos festgehalten, beschrieben, benannt und katalogisiert. Vor Beginn seiner Arbeit musste ein Student gleichzeitig mit einem erfahrenen Ethologen ein Protokoll erstellen. Wenn sein Protokoll mit jenem des Ethologen weitgehend übereinstimmte, konnte er mit seiner Arbeit beginnen. Damit sollten Voraussetzungen zur Vergleichbarkeit der Ergebnisse der verschiedenen Arbeiten geschaffen werden. Dissertationen und Diplomarbeiten wurden in verschiedenen Zeitschriften publiziert und Teile des Filmmaterials zusammen mit Kommentaren im Institut für den wissenschaftlichen Film in Göttingen veröffentlicht. Um einer breiten Leserschaft den Zugang zu den Aussagen in den Publikationen zu erleichtern, wurde erwogen, Angaben zum Verhalten der Pferde nicht nur mit Worten, sondern auch mit Hilfe von Zeichnungen zu machen. Dank der Mitarbeit der Zoologin Angela Glatthaar, einer begabten Zeichnerin und ausgezeichneten Pferdekennerin, wurde dies möglich. Zeichnungen haben im Vergleich zur sprachlichen Beschreibung einen wesentlichen Vorteil: Bei der sprachlichen Beschreibung muss der Leser sich ein Bild machen von dem, was beschrieben wird. Bei der Zeichnung ist das Bild vorhanden und kann mit dem verglichen werden, was sich aus der direkten Wahrnehmung ergibt. Die Aus-sagen solcher Zeichnungen sind intersubjektiv nachvollziehbar. Das zeigte sich darin, dass verschiedene Autoren von Pferdebüchern und Lehrmitteln zur Verhaltensforschung die Zeichnungen aus den Publikationen zum Verhalten von Camargue-Pferden übernommen haben. Verhalten ist ein in Raum und Zeit ablaufendes Geschehen. Dabei entsteht eine Raum-Zeit-Gestalt. Angela Glatthaar ist es gelungen, den jeweils für ein Verhalten typischen Ausschnitt auszuwählen und in einer Zeichnung wiederzugeben. Deshalb ist es jedermann möglich, den Ausschnitt mit dem beobachtbaren Verhalten in Verbindung zu bringen und bei der Beschäftigung mit den Abbildungen zur Kenntnis der Verhaltensweisen zu gelangen. Das Buch bietet noch mehr: Zusätzlich zur Darstellung eines typischen Ausschnittes aus der Raum-Zeit-Gestalt eines Verhaltens wird es definiert durch Angaben der am Verhalten beteiligten Körperteile und ihres raumzeitlichen Zusammenwirkens. Unter dem Stichwort „Variationen“ werden Angaben zu Veränderungen von Körperteilen gemacht, die nichts zur Entstehung der Raum-Zeit-Gestalt des beschriebenen Verhaltens beitragen. Unter dem Stichwort „Kontext“ wird auch angegeben, welche Reize ein Verhalten auslösen und was es bewirkt. Diese Angaben gehen über diejenigen hinaus, die in den Zeichnungen gemacht werden. Diese Zeichnungen bilden insgesamt einen Katalog, aus dem entnommen werden kann, welche Verhaltensweisen beim Pferd vorkommen. Die Definitionen und Ausführungen zu Variationen sind bereichernde Ergänzungen, und die Angaben zum Kontext regen zu Fragen an, was ein Pferd veranlasst, sich in bestimmter Weise zu verhalten und was es mit dem Verhalten erreicht. Das Buch ist hilfreich für Studenten und Lehrer in der Pferdeausbildung, für Tierärzte und Pferdehalter und bereitet jedermann Freude, der ein Auge hat für die Schönheit der künstlerisch gestalteten Zeichnungen. Prof. Dr. Beat Tschanz