Bauernkriegspanorama
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»Eine hellwache Beobachterin unserer Gegenwart.« Jury des Else-Lasker-Schüler-Preises 2022 Beim »Reichsbürger«-Prozess in Frankfurt sitzen die Verfassungsfeinde längst überall im Publikum. An die Wände von Universitäten werden mitten in Deutschland antisemitische Parolen gesprayt. Und über den Klimawandel wird erstaunlich leise gesprochen. Alles ist hyperpolitisch, auch die Kunst. Aber hören wir überhaupt noch zu? Sehen wir die entscheidenden Dinge? Können wir noch miteinander sprechen? Wie immer in ihren Büchern streift Kathrin Röggla als engagierte Zeitgenossin durch unsere Gegenwart. Sie schaut hin, hört zu, befragt die Wörter und riskiert ihre Sätze, um zu neuen Erzählformen zu finden. Denn was in der sogenannten Polykrise auch in Frage steht, sind die Spielräume der Literatur.
In »publikumsberatung« demonstrieren Kathrin Röggla und Leopold von Verschuer meisterhaft verschiedene rhetorische Mittel wie Anekdoten, Abschweifungen und Improvisation. Sie kritisieren die kurzlebigen Moden und die Erwartungen an professionelle Vortragskunst, das Publikum zu fesseln.
Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen
Von Katastrophenfilmen, Global Players und postdemokratischem Kritik ist keine einfache Sache. Und Theater als permanentes Gespräch mit dem Realen hat viel mit Fiktionen zu tun, die längst ihre Unschuld verloren haben. Zu ergründen, welche Herrschaftsstrukturen unsere Gegenwart ausmachen, wie man sich dagegen wehrt und welche Sprache dabei zu sprechen ist, ohne das Fürchten zu verlernen, ist Kathrin Rögglas Vorhaben in "Die falsche Frage". Sie gibt darin Auskunft über die verschlungenen Verbindungen von Ästhetik und Politik in ihrem Theater, das aus der Entfernung anderer Medien entworfen, mit Komik und Anarchie gewonnen wird, und sich mit Hilfe von Lücken, Fehlanzeigen und indirekten Bezügen vorwärts bewegt. "Die falsche Frage" basiert auf drei im Rahmen der 3. Poetikdozentur für Dramatik an der Universität des Saarlandes im Sommer 2014 gehaltenen Vorträgen. Kathrin Röggla konturiert und kontextualisiert darin ihr zentrales Projekt, ein sprachkritisches wie dokumentarisches und experimentelles Theater auf der Höhe der Komplexität der Gegenwart zu schreiben.
[Theater der Gegenwart]
»Lasst mich doch endlich einmal ausreden, habe ich das schon gesagt? Ja, ich möchte einmal nur ausreden dürfen, hier an dieser Stelle. Aber dazu müsste ich erst einmal zu Wort kommen, so fängt es nämlich an. Erst einmal zu Wort kommen und dann ausreden dürfen. Das ist doch hier die Verabredung?« Kathrin Rögglas Vorlesungen zur Kunst des Schreibens wurden aufgrund der Corona-Pandemie im virtuellen Raum gehalten. Viele Leser*innen kennen sicher die Krux rund um stumm schalten, unterbrochen werden und ins Leere sprechen während diverserster Videokonferenzen. "Ausreden" ist nicht nur eine Annäherung an Rögglas eigenes Schreiben, sondern zugleich ein Performance-Kunststück, in dem das Ausreden, Unter- brochenwerden und Schweigen sowie die Ausreden, das Auserzählte und das Abschreiben mit rollenspiel- artigen Elementen thematisiert werden. Es geht um den Dialog als Raum für ein poetisches Schaffen und gesellschaftliches Miteinander, um die Verknüpfung von Schreiben und Handeln, um Verstehen und Diskutieren. Von Philosophie über Literatur, Ästhetik und aktuelle politische Ereignisse (z. B. den NSU-Prozess) vereint Röggla kaleidoskopartig die vielen Ebenen der Kommunikation und des Schreibens.
Roman
»Wir werden die sein, die sich wundern«: Kathrin Rögglas Roman zum NSU-Prozess »Kein Schlussstrich!« Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines »Wir« ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind »wir« eigentlich, wenn jedes »Wir« durch den Prozess in Frage gestellt wird? Mit großer Genauigkeit, aber auch mit erstaunlicher Komik und Musikalität erzählt Rögglas Roman von den Rollen und Spielregeln des laufenden Verfahrens, um zu einer radikal offenen, vielstimmigen Form der Aufklärung zu kommen. Es ist ein Buch über die aktive Teilhabe all der Menschen, die das Gericht zu einem lebendigen Ort der Demokratie machen. Der Roman »Laufendes Verfahren« war für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.
Was erleben wir gerade auf den Finanzmärkten: Eine Gespenstergeschichte, einen Katastrophenfilm, einen Krimi, oder ein Shakespeare-Remake? Welche unterirdischen Verbindungen existieren zwischen dem Fiktiven der Finanzmärkte und den Fiktionen der Filmindustrie, und wie sieht es mit der Filmkritik aus? Anhand der Analyse von Rhetoriken und sprachlicher Bilder in den medialen und politischen Diskursen zur Finanzkrise fragt Kathrin Röggla nach den Dramaturgien, den Plotstrukturen und den Figuren, die mit diesen korrespondieren. Immer wiederkehrende Motive wie das der Unsichtbarkeit, der Gier, des Dominoeffekts, des Worst-case-Szenarios und des Insiderwissens sowie ständig verwendete Begriffe wie 'Bad Bank' oder 'toxische Zertifikate' lassen nicht nur deutlich werden, dass Katastrophismus und Risikogesellschaft längst vereint sind, sondern auch, dass uns anscheinend eine gefährliche Genre-Gemengelage regiert, eine Art 'Zombiekapitalismus'. Die Wirklichkeitsmacht der Fiktion hat auf den Finanzmärkten längst eine alles beherrschende Rolle eingenommen und lässt uns zurück mit der Frage, warum wir so zögerlich reagieren, ob Kritik in einer Gesellschaft des Spektakels überhaupt noch möglich ist.
»tokio, rückwärtstagebuch« ist eine Zusammenarbeit von Kathrin Röggla, einer bedeutenden Vertreterin der deutschen Gegenwartsliteratur, und Oliver Grajewski, bekannt durch die Comicreihe »Tigerboy«. Der Fokus des Werks liegt auf Tokio, das in Rögglas tagebuchähnlichem, rückwärtslaufendem Text als Metapher für globale gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen dient und die Erfahrung des Fremden thematisiert. Die Geschichte entfaltet sich als subtile »culture clash«-Erzählung, die sowohl komische als auch gespenstische Elemente beinhaltet. Grajewski analysiert in seiner auf japanische Lesart verfassten Bildergeschichte den urbanen Raum und zeigt die Brüche und Verwerfungen, die entstehen, wenn jahrhundertealte kulturelle Traditionen von moderner Architektur überwältigt werden. Mit verschiedenen Zeichenstilen, von klassischer Reportage bis Manga-Cut-Up, spielt Grajewski virtuos mit den Möglichkeiten der Visualisierung komplexer Realitäten. In Anlehnung an die Gemeinschaftsprojekte von Hubert Fichte und Leonore Mau vereinen Röggla und Grajewski in »tokio, rückwärtstagebuch« zwei unterschiedliche Seh- und Erzählweisen, die sich überkreuzen und zu einer vielschichtigen, spannenden »Parallel-Story« verschmelzen.