Gibt es eine Wahrheit im Plural?
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„Die Wahrheit beginnt zu zweit – sie lügt in der Mitte und ist immer obdachlos. Die Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht haben könnte“. So beginnt der evangelische Pfarrer, Publizist und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels aus dem Jahre 1993 die dritte Jenaer Gustav-Mensching-Vorlesung für religiöse Toleranz. Es gibt in der Menschheit nicht nur unterschiedliche, sondern auch disparate Kulturen. Alle erheben sie Ansprüche auf die Gültigkeit ihrer „Wahrheiten“, ihrer kulturellen, religiösen, politischen Grundüberzeugungen und auf die daraus abgeleiteten Gesellschaftsstrukturen, Rechtssysteme, Lebensweisen usw. Schorlemmer umkreist das Thema von verschiedenen Seiten: theologisch, literarisch, politisch, religiös – aber stets kritisch. Die Frage nach der religiösen Verwurzelung unserer Kulturen stellt sich angesichts einer globalisierten Welt neu, zumal gerade das Christentum und die christlichen Kirchen im europäischen Kontext immer mehr an Akzeptanz einbüßen. Ein theologischer Tour d’horizon diskutiert die monotheistische Problematik vom einen Gott und den Göttern. Schorlemmer fordert „Mut zur Subjektivität“. Er stellt fest: „Glaube wird im Dativ, nicht im Akkusativ formuliert, so dass es nicht mehr heißt: Ich glaube an oder ich glaube das, sondern ich glaube ihm. Das lässt Raum für echten Dialog, weil personale Gewissheit nicht objektivierbare (Allgemein-)Gültigkeit beansprucht.“ Vor dem Hintergrund des 11. Septembers und des Irak-Krieges greift Schorlemmer immer wieder in das aktuelle politische Geschehen ein und kommentiert es treffsicher. Einer der Kerngedanken des Vortrages: „Wahrheit wird hier nicht auf ihre Wirksamkeit, auf ihre politische Durchsetzbarkeit oder auf ihre bloße moralische Relevanz reduziert, wohl aber wird gefragt, welche praktischen Folgen die eigenen Wahrheitsansprüche haben, inwieweit der eigene Anspruch sich anderen Ansprüchen stellt, andere Erfahrungen kritisch aneignet oder mit guten Gründen widerlegt. Dazu gehört es eben, den Widerspruch nicht aus den Dingen herauszunehmen, sondern diesen klar zu sehen, zu benennen und fruchtbar zu machen“. Der Band enthält zwei weitere Beiträge von Friedrich Schorlemmer die die Toleranzthematik ergänzen, weil es in ihnen um ein „Leben in Mauern“ geht: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ (Vortrag zum 13. August 2001 – 40 Jahre danach), und „Weil einmal Schluss sein muss. Entmündigung, Entwürdigung, Entwertung?“.