Cognitio sensitiva
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Immer wieder sehen sich die Kulturwissenschaften dem Druck ausgesetzt, ihre Wissenschaftlichkeit erst beweisen zu müssen. Einige Mitglieder der kulturwissenschaftlichen Familie, darunter auch in weiten Teilen die Volkswirtschaftslehre, suchen diesem Druck zu begegnen, indem sie die Flucht nach vorn antreten – und sich als eine Art „soziale Physik“ konstituieren, gleich so, als boten die exakten Naturwissenschaften im Verbund mit der Mathematik den Maßstab für Wissenschaftlichkeit überhaupt. Friedrich August von Hayek kritisierte diese „Neigung“ bereits 1974 in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises in scharfen Worten als „szientistischen Irrtum“, der „ganz un-wissenschaftlich“ sei. Ungeachtet der häufig wohlfundierten Kritik eifern die Kulturwissenschaften den (vermeintlich) so exakten Naturwissenschaften weiter nach, statt sich ihrer besonderen Erkenntnisbedingungen, -anspruche und -wirkungen zu vergewissern und daraufhin selbstbewusst eigene philosophisch-wissenschaftstheoretische Grundlagen und spezifische Kriterien und gegenstandsadäquate Standards für Wissenschaftlichkeit zu entwickeln. Ausgehend von dieser Problemlage ist, über die epistemischen Grundlagen der Kulturwissenschaften aufzuklären: Was sind Kulturwissenschaften, wie sind sie verfasst, wie kann eine angemessene philosophische Fundierung aussehen und wie geschieht die Begriffsbildung? Welche praktischen Konsequenzen zeitigen kulturwissenschaftliche Erkenntnisse und welche Rolle spielen Ideen und Konzepte dabei? Mithin geht es um nichts weniger als um die Frage nach der adäquaten Methode der Erfassung menschlicher Kulturleistungen. Ein hoffnungsvoller Ansatz dazu ist die ästhetische Weltauffassung von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762). Die von Baumgarten so benannte philosophische Sub-Disziplin „Ästhetik“ ist von ihm nicht als Philosophie der mehr oder minder schonen Künste, sondern als alternative Erkenntnistheorie (gnoseologia) konzipiert worden. Ihr Leitbegriff und Programm ist die cognitio sensitiva; ihr Ziel die cogitatio pulchre, das „schone Denken“. „Schönes Denken“ bedeutet ein Denken von und in Zusammenhangen, sowie zugleich die sinnhafte Gestaltung unter besonderer Aufmerksamkeit für das Individuelle, Nicht-Generalisierbare. In der ursprünglichen Ästhetik geht es um das Ermessen und Darstellen der Spannung zwischen Individuellem und Allgemeinem und – als didaktischem Ziel – um die Entwicklung eines umfassenden, sensiblen Urteilsvermögens. Mit Blick auf die Erkenntnissituation in den Kulturwissenschaften erscheint Baumgartens Entwicklung der Bestimmung von „Ästhetik“, die Verbindung von Erkenntnis und gestaltendem Ausdruck, seine poetische Auffassung vom menschlichen Erkennen, besonders interessant und durchaus aktuell zu sein. Darauf gründet sich die Frage, ob wir nicht mit Baumgartens eigentümlichem Ansatz bereits eine Vorarbeit haben, die sich für eine philosophische Grundlegung der Kulturwissenschaften nutzen lässt? Der Erkenntnisfortschritt in den Kulturwissenschaften, den Wissenschaften vom Menschen und seinen kulturgestaltenden Leistungen, hat wohl nichts so sehr zu seiner Voraussetzung wie die Vertiefung der Einsichten in die Bedingungen von Erkenntnis. Dazu mochte diese Studie einen kleinen Beitrag leisten.