Über Marcel Duchamp und die Ästhetik des Möglichen
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Lange war Marcel Duchamp der Inbegriff der Anti-Ästhetik. Tatsächlich war er jedoch keineswegs ein Gegner jedweder Ästhetik, vielmehr entwickelte er im Gegensatz zur Kunsttheorie des Wahren und Schönen eine eigene, andere Ästhetik, in deren Zentrum die Kategorie des Möglichen steht. Duchamp verwendet diesen Begriff so, wie er im Kontext der neuen vierdimensionalen Geometrie zu Beginn des 20 Jahrhunderts benutzt wird: zur Bezeichnung der geistigen Konstruktion eines höherdimensionalen Hyperraums, der zwar weder sichtbar noch darstellbar, aber in dem Sinne real ist, als er denkbar ist, ohne die Regeln der Vernunft zu verletzen. Seit 1913 wird das künstlerische Schaffen Duchamps durch den Gedanken geleitet, Wirklichkeiten zu erfinden, die „möglich wären, wenn man die Gesetze der Physik und Chemie ein wenig überdenken würde“. Herbert Molderings zeigt in den hier versammelten Aufsätzen, wie dieser neue ästhetische Ansatz Duchamp zu einer systematischen Entgrenzung und Experimentalisierung der Kunst führte, deren Höhepunkt die Erfindung und Ausdifferenzierung der „Readymades“ in den Jahren 1913 bis 1921 war. Anders als von den Mythographen der modernen Kunst immer wieder behauptet, wurden diese nicht als provokative Ausstellungsobjekte, sondern als private, ästhetische Versuchsobjekte konzipiert, mit denen Duchamp sein New Yorker Atelier in ein experimentelles Wahrnehmungslabor verwandelte.